Auszeichnungen

„Goldener Gurt des MPC“ 2014 an Karl-Heinz Baumann

Karl-Heinz Baumann hat mit Innovationen wie dem Gurtstraffer und dem PRE-SAFE-System das Autofahren sicherer gemacht. Der Entwicklungsingenieur wird für sein Lebenswerk im Dienste der Verkehrssicherheit mit dem Goldenen Gurt des MPC 2014 ausgezeichnet.

Karl-Heinz Baumann, fotografiert von Markus Bolsinger, 2003

Karl-Heinz Baumann, fotografiert von Markus Bolsinger im Jahr 2003

 

Es ist Sonntagvormittag irgendwo auf einer Autobahn bei Stuttgart, als der Fahrer eines Mercedes-Benz SL der Baureihe R 129 bei über 200 km / h in einer langgezogenen Kurve die Kontrolle über sein Fahrzeug verliert und die Mittelleitplanke touchiert. Der Wagen schießt über die zweispurige Autobahn, landet im Straßengraben, überschlägt sich, wird zurückgeschleudert und rutscht über hundert Meter auf dem Dach über die Fahrbahn und zurück in den Straßengraben. Als sich der Wagen dort wieder aufrichtet, fliegt das Hardtop davon und die Rutschpartie geht noch ein Stück weiter. Dass am Ende der Fahrer des Wagens nahezu unverletzt aussteigen kann, verdankt er nicht zuletzt einem Mann: Karl-Heinz Baumann.

Unfälle spielen sich in einem zeitlichen Bereich von weit unter einer Sekunde ab. Wer sich mit den Abläufen eines Crashs befasst, muss deshalb in Millisekunden denken. Schon nach fünf Millisekunden beginnt der Längsträger eines Fahrzeugs sich aufzufalten. Bis der Bordcomputer feststellt, dass es sich um einen schweren Unfall handelt, sind 23 Millisekunden vergangen. Weitere vier Millisekunden später sind die Passagiere durch die pyrotechnisch gezündeten Gurtstraffer ­fixiert. Es dauert nochmals dreißig Millisekunden, bis die Airbags aufgeblasen sind. Wenn sich der Körper zurückbewegt, wird er von Sitzlehne und proaktiver Kopfstütze aufgefangen. Das alles zusammen hat nur 150 Millisekunden gedauert. Der tausendste Teil einer Sekunde ist das Maß, mit dem Entwicklungsingenieure haushalten müssen.

Die Elektronik sorgt dafür, Problem­lösungen in einer neuen Dimension zu erreichen. Durch das Erkennen eines sich anbahnenden Unfalls gewinnt man sehr viel Zeit, um ein Präventionsszenario in Gang zu setzen, mit dem sich die Unfallfolgen deutlich reduzieren lassen. Heute ist dieses Maßnahmenbündel unter dem Begriff PRE-SAFE bekannt. Das sind reversible Veränderungen für den Insassen- und Verkehrspartnerschutz, die schon im Vorfeld eines sich anbahnenden Unfalls aktiviert werden, also dann, wenn noch Zeit zur Verfügung steht.

Premiere hatte diese Technologie in dem anfangs erwähnten Mercedes-Benz SL in Form eines Überrollbügels, der sich bei einem Unfall in 0,3 Sekunden aufrichtet und so den notwendigen Überlebensraum für die Insassen schafft. Da dieser Prozess hydraulisch und über Federn erfolgt, ist er reversibel. Diese Idee war aus der Not geboren, da eine pyrotechnische Lösung aufgrund der unsicheren Auslöseparameter ausschied. Erprobt wurde der Baumannsche Überrollbügel dann zuerst in einem SL (R 107), bevor er beim Nachfolgemodell in die Serienfertigung ging. Mit PRE-SAFE war ein weiterer wesentlicher Fortschritt in der kontinuierlichen Entwicklung der passiven Sicherheit gelungen, die mit Béla Barényi und seiner Sicherheitskarosserie mit gestaltfester Fahrgastzelle und Knautschzone begonnen hatte. Karl-Heinz Baumann hat ganz in der Tradition seines großen Vorgängers die Sicherheitsentwicklung auf eine neue Stufe gehoben.

Karl-Heinz Baumann wurde am 11. Mai 1951 in Villingen geboren. Von 1966 bis 1969 absolvierte er eine Werkzeugmacherlehre. Nach dem Erreichen der Fachhochschulreife folgte ein dreijähriges Maschinenbaustudium, das er 1977 als Diplom-Ingenieur FH abschloss. Weitere Stationen an der FH Konstanz und der Schweißtechnischen Lehranstalt in Mannheim mit der Ausbildung zum Schweißfachingenieur folgten. Von 1977 an arbeitete er bei Daimler-Benz in Sindelfingen im Bereich Unfallsicherheit bei Personenwagen-Aufbauten.

Dort war es Jürgen Decker, Gruppenleiter der Filmauswertung der Crash-Versuche, der ihm aufzeigte, wie Fahrgastzellenbeschleunigung und Insassenbelastungsverläufe zu analysieren und zu interpretieren waren. „Bäpperles Decker“, so die interne schwäbische Bezeichnung für den Herrn, die ihren Ursprung in der Tatsache hatte, dass die Fahrzeuge mit Filmmessmarken beklebt werden mussten.

Analyse von Realunfällen verändert Crash-Konstellation

Karl-Heinz Baumann wurde Teil des Teams, das sich mit der Entwicklung der S-Klasse Baureihe W / V 126 befasste. Schon 1974 hatte man aufgrund der Analyse der Realunfälle festgestellt, dass der zentrische Frontalaufprall eher die Ausnahme als die Regel darstellt. Konsequenz ist der Crash mit Offset-Konstellation, bei der sich die Fahrzeuge nur zum Teil überdecken. Diesen Erkenntnissen wurde bei der S-Klasse der Baureihe W 126 durch eine Gabelträgerkonstruktion des Vorbaus Rechnung getragen, die die Kräfte so verteilte, dass es auch bei dieser Unfallform nicht zu Intrusionen kam.

Im weiteren Verlauf seiner Arbeit befasste sich Karl-Heinz Baumann dann vor allem mit den S-Klasse Baureihen W 140 und W 220 sowie den E-Klasse Baureihen W 124 und W 210 und den C-Klasse Bau­reihen W 201, W 202 und W 203, wobei sein besonderes Augenmerk den SL- und SLK-Modellen R 129 und R 170 galt. Beim SLK der Baureihe R 170 war es die Idee einer Ellipsoid-Stirnwand, die zusätzliche Crashsicherheit lieferte, um den hohen Anforderungen, die Mercedes-Benz hinsichtlich der passiven Sicherheit stellt, gerecht zu werden.

Eine der größten Herausforderungen für Karl-Heinz Baumann: einem extremen Kompaktauto wie dem Smart ein Höchstmaß an passiver Sicherheit mit auf den Weg zu geben. Die Prototypen, die von Nicolas A. Hayek in die Kooperation mit Mercedes-Benz eingebracht wurden, erfüllten nicht einmal die rudimentärsten Erfordernisse im Hinblick auf passive Sicherheit. Wie aber kann man in einem so kleinen Automobil, bei dem jeder Platz für eine Knautschzone fehlt, die notwendigen Sicherheitsstandards erreichen?

Mit der aufprallsicheren und gestaltfesten Fahrgastzelle, die die Knautschzone des Unfallgegners nutzt, fand Baumann eine funktionale Lösung, die den Insassen im Fall des Falles höchstmöglichen Schutz bietet. Bei einem Rating-Crashtest, den die Zeitschrift Auto Bild 1998 mit fünf Kleinstfahrzeugen durchführte, wurde der Smart „Bester im Test“. Dafür wurde Karl-Heinz Baumann offiziell vom Unternehmen gedankt. Die Smart Geschäftsführung wörtlich: „Insbesondere möchten wir uns auch bei Herrn Karl-Heinz Baumann für die Konzeptentwicklung und -absicherung bedanken. Ohne diese Konzeptideen wäre der Smart sicher nicht das sichere Fahrzeug geworden, das es heute ist.“

Mehr als zweihundert Patente sind Ausdruck eines ideenreichen Schaffens, bei dem oft eine pragmatische Demonstration den Vorgesetzten von Nutzen und Umsetzbarkeit der technischen Lösungen überzeugte. Beispiel: der Gurtstraffer.

Karl-Heinz Baumann hatte in einem Baumarkt eine kleine Handbohrmaschine erstanden und diese mit dem Sicherheitsgurt so verbunden, dass er diesen, hinter dem Fahrer sitzend, aufrollen konnte. Er forderte seinen Vorgesetzten auf, eine Vollbremsung zu machen; in diesem Moment trat die Bohrmaschine in Aktion und spannte den Gurt. Dies war die Geburtsstunde des Gurtstraffers, wie er heute in Mercedes-Benz-Modellen zu finden ist. Damit war das Problem der losen Gurte gelöst. Im Rahmen des PRE-SAFE gehört der Gurtstraffer ergo zu den reversiblen Maßnahmen, die wirksam werden, wenn die Elektronik des Fahrzeugs einen möglichen Unfall feststellt.

Komplexes Konzept vereint aktive und passive Sicherheit

Im Rahmen seiner Tätigkeit arbeitete Karl-Heinz Baumann bei Mercedes-Benz an komplexen, multifunktionalen ­Lösungen wie dem 1997 formulierten Sieben-Phasen-Konzept, bei dem das Ineinandergreifen und die Verknüpfung von aktiver und passiver Sicherheit durchdacht und dargestellt wird. Gleiches gilt für das Experimentier-Sicherheitsfahrzeug ESF 2009. Viele Ideen des Entwicklungsingenieurs wie der Braking Bag, bei dem ein Airbag sich unter dem Fahrzeugvorderbau aufbläst, sobald eine nicht mehr vermeidbare Kollision von der Bord­elektronik festgestellt wird, sind noch nicht in die Serie eingeflossen.

Andere integrale Sicherheitskonzepte, wie die crashaktiven Kopfstützen, der alternative Energieabsorber, die aufstellbare Motorhaube, der motorisierte Gurt- spender, der aufblasbare Abstandshalter für den Insassenschutz und die präventive Auslösung aktiver Kopfstützen, um nur einige zu nennen, sind Teil der neuen Mercedes-Modelle.

Für seine Arbeiten, vor allem das PRE-SAFE-System, wurde Baumann 2003 von der amerikanischen Sicherheitsbehörde ­NHTSA mit dem U.S. Government Award for ­Safety Engineering Excellence ausgezeichnet. Mit seinem seit 2007 wahrgenommenen Lehrauftrag an der Technischen Universität Dresden sorgt Baumann dafür, dass sein reichhaltiger Wissensschatz auch an die nachfolgende Technikergeneration weitergegeben wird. Viele der Sicherheitsfeatures, die auch in der neuen E- und S-Klasse der Baureihen 212 und 222 zum Einsatz kommen, gehen auf die Arbeiten Baumanns zurück. Seit 2012 nun ist Karl-Heinz Baumann im „Ruhestand“ und kann sich seinen Leidenschaften, dem Gleitschirmfliegen und Motorradfahren, intensiver widmen.

Harry Niemann

 

01 MPC 2014 Essen Goldener Gurt

Goldener Gurt des MPC 2014: Prof. Dr.-Ing. Rodolfo Schöneburg, Laudator Dr. Harry Niemann, Preisträger Karl-Heinz Baumann, MPC Vorsitzender Rolf Heggen

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